Martin Schleske

Die unglaubliche Reise eines Geigenbauers ins Herz des Schalls

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Er ist einer der besten Geigenbauer der Welt. Und nimmt uns mit auf seine Suche nach der perfekten Schwingung. Martin Schleske sucht zwischen tiefsten Tiefen und höchsten Höhen, von 20 bis 20.000 Hertz. Welche dieser Resonanzen lassen unsere Seele erzittern?

  • Autor: Sennheiser electronic GmbH & Co. KG
  • Fotos: Autorenkombinat
  • Video: Sennheiser electronic GmbH & Co. KG

Es gibt Klänge, denen es gelingt, die Seele zu berühren, zu trösten, zu stärken, aufzurichten. Ein guter Klang hat Charisma. „Charis“ heißt wörtlich Gnade, aber ebenso „Anmut des Schönen“. Die Suche nach diesem perfekten Klang ist mein Lebensziel geworden, mein Leben ist eine Reise ins Herz des Schalls. Um aufbrechen zu können, habe ich die Schule abgebrochen und eine Geigenbauschule besucht. Um weiterzukommen, habe ich Physik studiert. Und um anzukommen, habe ich schließlich das Unmögliche gewagt: einen Klang zu konstruieren, den so noch kein Instrument der Welt gespielt hat. Und noch immer bin ich nicht dort.

Andere mögen es geschafft haben: Antonio Stradivari und Joseph Guarneri del Gesù, die großen italienischen Geigenbauer. Die Geheimnisse, die sie mit ins Grab nahmen, haben bis zum heutigen Tag etwas Singuläres: Ihre Werke erzielen nicht nur als Kunstobjekte Millionensummen. Sie werden auch heute noch von den großen Virtuosen gespielt. Wie ist das möglich? Diese Frage bewegt mich, seitdem ich als Siebenjähriger eine kleine schwäbische Musikschule besuchte. Die Musik wurde mein Leben. Sonntags musizierten wir zu Hause, ich spielte im Kammerorchester, in einer Hardrockband und in der Fußgängerzone; wir bauten sogar eigene Röhrenverstärker. Den Rest der Zeit über beantwortete mir die Schule unentwegt Fragen, die ich gar nicht hatte. So brach ich sie nach der zehnten Klasse ab, um eine Geigenbaulehre zu beginnen, getrieben von der Vision, einmal klangschönere Instrumente als Stradivari zu bauen – oder wenigstens zu erforschen, warum das gar nicht erst möglich ist.

Hatten die Altmeister im 18. Jahrhundert ein geheimes Wissen? Oder hat der Alterungsprozess des Holzes eine klangliche Reifung hinzugetan, die junge Instrumente noch nicht haben können? Die Geige an sich ist in einer bemerkenswerten Zeit entstanden. Die Meister der Renaissance empfanden die Verbindung von Kunst und Wissenschaft als selbstverständlich. Ihre künstlerischen Werke sind ohne ihre Beobachtungsschärfe, ohne ihr Naturgefühl kaum denkbar. Solche hochgradig optimierten akustischen Systeme können nur in einem Milieu begnadeter Empirie und ganzheitlicher Intuition entstanden sein. Erst im 19. Jahrhundert verkam die Kunst des Geigenbaus zum industriell revolutionierten Handwerk.

Die Zunft hatte also ihre Seele verkauft. Wie aber würde ich versuchen, den Kontakt zur Klangkunst wiederherzustellen? Ich begann damit, unzählige Rezepturen alter Lacke nachzukochen. Bald wurde mir klar: So wie die alten Meister würde auch ich die Wissenschaft bemühen müssen, ohne dabei die Kunst zu vergessen – so, wie es mir der Akustiker Helmut Müller gezeigt hatte. Der Physiklehrer meiner Geigenbauschule betrieb in seinem Schalltechnischen Beratungsbüro Müller-BBM ein Forschungslabor. Dort ließ er mich all den ungeklärten Fragen nachgehen, mit denen ich ihn jahrelang traktiert hatte.

Eine Methode aus der Luft- und Raumfahrttechnik auf die Geige anwenden Zur Offenbarung wurde mir die Modalanalyse. Ich begann, diese Methode aus der Luft- und Raumfahrttechnik auf die Geige anzuwenden. Das hatte noch niemand getan. Nun konnte man erstmals sehen, wie die Geige tatsächlich schwingt: das bauchige Atmen in der tiefsten Eigenschwingung, der Helmholtzresonanz um 260 bis 280 Hertz; die starken Verwindungen in den unteren Korpusresonanzen, die großflächigen Plattenbewegungen in den beiden Hauptresonanzen zwischen 440 und 550 Hertz mit ihren weiten Auslenkungen um den Bassbalken; der a-Formant um 700 bis 1.000 Hertz, der für einen „offenen Ton“ verantwortlich ist. Und schließlich all die Schwingungsinseln in den Frequenzlagen des Brillanzbereichs zwischen 2.000 und 3.000 Hertz. Endlich konnte ich erkennen, was bislang verborgen war!

Je länger ich an diesen Dingen arbeitete, desto klarer wurde mir, dass ich den theoretischen Hintergrund noch nicht wirklich verstanden hatte. So blieb mir nichts anderes übrig, als das Abitur nachzumachen und Physik zu studieren – einzig mit dem Ziel, den Geheimnissen eines guten, eines heilsamen Klangs weiter auf den Grund zu gehen. Das ist es, was mich antreibt.

Die Klangfarben einer der berühmtesten Geigen Stradivaris Nachdem ich Physikstudium und Meisterprüfung absolviert hatte, erlebte ich in der intimen Akustik meines neuen Ateliers eine der berühmtesten Geigen Stradivaris. Schon mit dem ersten Akkord erfüllten eine Wärme, ein Atmen, ein Volumen und ein Glanz den Raum, die jeder auch noch so ungeübte Hörer spüren würde. Die Stradivari ist wie ein in Klangfarben getauchtes Gebet. Es ist, als stünde man in einer Klangwolke – eine ganz besondere Gleichzeitigkeit von Sanftheit und Kraft, die einen geradezu süchtig macht. Diese Geige wurde mir während meiner ersten Meisterjahre zum entscheidenden Lehrer.

Ganz anders als Stradivari sind die Geigen von Guarneri del Gesù. Die beiden Hauptresonanzen sind grundsätzlich weiter auseinandergezogen. Man spürt unter dem Bogen, wie die Töne sich kneten und formen lassen. Sie saugen den Bogen förmlich in sich hinein. Besonders auf der G-Saite spürt man die Töne wie frisch gefallenen Schnee, den man unter den Füßen komprimieren kann. Es ist dieses satte, knirschende, befriedigende Gefühl. So sind die Töne einer guten G-Saite: dicht, dunkel und komprimierbar. Diese Geigen haben unten einen rötlichen Klang und ein silbriges Schillern auf der E-Saite. Sie können fast archaisch werden, fauchend und groß.

Die Violine Opus 130 – „diese Geige ist nicht jugendfrei“ Jahrzehntelang habe ich diese Geigen studiert. Bis ich dann, vor etwa einem Jahr, das Gefühl hatte, irgendwo angekommen zu sein. Der Meistergeiger Ingolf Turban kam in mein Atelier. Und obwohl er seit Jahren eine Stradivari besitzt, verliebte er sich Hals über Kopf in meine jüngste „Tochter“, die Violine Opus 130. Seit jenem Tag hat er sämtliche seiner Solokonzerte auf ihr gespielt. „Diese Geige ist nicht jugendfrei“, hat er einmal augenzwinkernd zu mir gesagt. Viel wichtiger aber war mir sein Dank: „Du hast mir meine Stimme gegeben!“

Trotzdem bin ich noch nicht am Ziel. Seit Jahren forsche ich an einem neuartigen Resonanzvibrato – einer Frequenzmodulation der Resonanzen selbst, wie sie bislang nur die menschliche Stimme leisten kann. Kein Instrument der Welt, in dem ein Oszillator wie etwa eine schwingende Saite mit einem Resonanzkörper „spielt“, vermag solche Modulationen zu erzeugen. Das Ergebnis wäre gewaltig. Es würde einen Klang hervorbringen, den es so noch nie gab. Ich fürchte, ein einziges Menschenleben wird zu kurz sein, diese Ziele an Schönheit und Vollkommenheit zu erreichen. Bremsen aber wird mich das nicht.