British Library Sound Archive

Unsere Sammlung ist eine digitale Arche

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Wie die Zukunft klingt? Das erfahren Sie hier – wo die Musik spielt. An den Orten, an denen Innovative und Experimentierfreudige zusammenkommen, um gemeinsam mit anderen Neues zu hören und neu zu hören. Wir laden Sie ein, einen Blick hinter die Kulissen dieser Audiowelten zu werfen: angesagte Clubs, legendäre Aufnahmestudios, Kunst- und Klanglocations

Das Sound-Archiv der britischen Nationalbibliothek in London sammelt Geräusche aller Art, von Grammophonaufnahmen über Nebelhorntuten bis zum Gezwitscher ausgestorbener Vögel. Jetzt ist die akustische Weltgeschichte selbst gefährdet.

  • Autor: Carlo Roschinsky
  • Fotos: Clare Kendall
„Der Soundtrack aus eineinhalb Jahrhunderten“

Hier kommt man nur mit Hausausweis hinein. Kein Wunder, die Sammlung ist wertvoll. Im Norden Londons, in der Euston Road, Nummer 96, wird nicht weniger als das akustische Erbe der Menschheit konserviert. Die Phonothek tief im klimakontrollierten Keller unter der British Library, die 6,5 Millionen Dokumente und digitale Ordner auf vierzig verschiedenen Tonträgern umfasst, hütet den Soundtrack aus eineinhalb Jahrhunderten.

Wir sprechen mit Will Prentice, dem Kopf der technischen Abteilung, über seine Rolle als Gralshüter – und auch als Nerd, denn die Zukunft des Archivs, sagt er, liege vor allem im Digitalen.

Herr Prentice, das Klingeln Ihres Telefons, als ich Sie gerade anrief – ist das ein Geräusch, das man für die Nachwelt bewahren muss? Ja und nein. Uns erscheint es alltäglich und belanglos, wir messen ihm keine tiefere Bedeutung bei. Aber in hundert Jahren wird dieser Sound zeithistorischer Nachweis für eine Epoche und Technik sein, die es dann nicht mehr gibt.

Was qualifiziert also eine Aufnahme für das British Library Sound Archive? Sie muss etwas über sich und den Bereich, den sie repräsentiert, oder die Zeit, aus der sie stammt, aussagen. Das heißt: Seltenheit ist nicht unbedingt ausschlaggebend – auch wenn wir natürlich sehr viele rare Aufzeichnungen besitzen. Wir sammeln alte Musikaufnahmen, jede Nummer-1-Platte, die je gemacht wurde. Aber auch mündliche Geschichte – bedeutende Reden, Mitschnitte, oft auch nur Wortfetzen. Winston Churchill im O-Ton, Gandhi, Stalin, Trotzki. Wir haben die Stimmen ausgestorbener Völker, wir haben Tiere, die es längst nicht mehr gibt. Unsere Kuratoren arbeiten ständig daran, Geräuschfelder zu identifizieren, die noch nicht ganz so gut bestückt sind – damit wir diese Lücken schließen können.

Save Our Sounds: A campaign against time

  • Florence Nightingale
  • J.R.R. Tolkien
  • Brahms
  • Mozart
  • Straßenverkehr 1920er
  • Löwen
  • Elisabeth II. an ihrem 21. Geburtstag
  • House of the Rising Sun
„Save our sounds: eine Kampagne gegen das Verstummen der Geschichte“

Will Prentice ist ein Mann mit Auftrag, die Sätze sprudeln nur so aus ihm heraus. Schnell merkt man: Hier macht einer mehr als nur Dienst nach Vorschrift, hier lebt einer für seine Arbeit – und leidet, wenn diese an Grenzen stößt. Denn alle Aufnahmen wird Prentice mit seinem Team nicht retten können, das ist jetzt schon klar. Die Archivare befinden sich in einem aussichtslosen Rennen, weil der Gegner zu mächtig ist: die Zeit.

Sie nagt an den alten Wachswalzen aus dem 19. Jahrhundert, frisst sich ins schwarze Hartgummi der Grammophonplatten, zerstört Tonbänder. Fieberhaft arbeiten Prentice und Kollegen gegen den Verfall. Dabei helfen soll die Kampagne „Save Our Sounds“, die von der British Library entwickelt wurde.

Was sind die Ziele von diesem SOS-Ruf? Die Aktion soll dafür sorgen, dass wir so viel wie möglich Hör-Material konservieren können, nicht nur unsere Aufnahmen, sondern auch vergleichbare Sammlungen in Großbritannien. Zweitens wollen wir ein nationales Radioarchiv aufbauen, das viele Sendungen britischer Radiostationen zentral aufzeichnet und für alle verfügbar macht. Drittens müssen wir in Digitaltechnik investieren, um das Material langfristig zu schützen. Aber all das ist nicht einfach.

Wo liegen die Schwierigkeiten? Wir kommen nicht hinterher. Im Archiv wartet mehr als eine Million Stunden an Material – würde sich das ein einziger Mensch anhören, bräuchte er dazu mehr als hundert Jahre. Und es reicht nicht, nur die Aufnahme zu retten. Wir müssen auch das Abspielgerät konservieren, das Grammophon zum Beispiel; ganz zu schweigen von der Expertise, diese historischen Geräte zu bedienen. Es bringt ja nichts, wenn wir einen Apparat sichern, aber in zwanzig Jahren weiß keiner mehr, wo die Nadel aufgelegt wird.

„Wie hat Noah damals entschieden?“

Wie entscheiden Sie in Ihrer Zeitnot, welche Laute vor dem Verfall geschützt werden und welche weiterhin leise vor sich hinsterben? Was akut gefährdet ist, wird zuerst digitalisiert. Dass wir dabei Gefahr laufen, andere Aufnahmen zu verlieren, ist uns schmerzlich bewusst. Aber wir müssen Prioritäten setzen. Dies ist eine digitale Arche. Wie hat Noah damals entschieden? Natürlich hoffen wir auf Hilfe von außen. Spenden sind willkommen. Und jeder, der glaubt, eine Aufnahme oder Sammlung zu haben, die archiviert werden muss, soll sich bei uns melden. Wir müssen unser Anliegen öffentlich machen.

Heutzutage sind Menschen mehr denn je bilderfixiert. Wir werden dauergeflutet mit Fotos und Videos, laden ständig Schnappschüsse in Clouds und Netzwerke. Warum ist es überhaupt wichtig, Geräusche zu bewahren? Weil sie Teil des kollektiven Gedächtnisses sind. Natürlich können Sie sich auch nur Fotos anschauen, von einer historischen Politikerrede zum Beispiel. Aber dann wissen Sie nicht, wie die Stimmung war, welche Rhetorik benutzt wurde. Nur mit der Tonspur erfahren Sie, ob die Rede die Menge gepackt hat, ob da ein Begeisterer am Werk war oder ein Langweiler.

Wer nutzt das Sound-Archiv eigentlich? Das ist ganz unterschiedlich. Früher waren es vor allem Tüftler, Stöberer, Experten, Forscher. Heute kommen auch Schauspieler, die sich auf Rollen vorbereiten: Sie wollen einen bestimmten Akzent hören oder einfach die Original-Stimme der historischen Person, die sie verkörpern sollen. Und manchmal kommen ganz normale Leute und sagen: Mein Großvater hat in den Fünfzigern eine Platte aufgenommen, ich möchte nochmal seine Stimme hören. Können Sie mir helfen? Oft können wir das.

In fünf Aufnahmestudios wird rund um die Uhr das Material der alten Tonträger gesichert. Freiwillige bieten dem Archiv ihre Mitarbeit an, und doch: Nur fünfzehn Jahre bleiben Prentice und seiner Truppe, um ihre Schätze zu konservieren. Das ist ihre Deadline: Danach ist der Schaden an dem empfindlichen Material irreversibel. Beim gegenwärtigen Tempo aber brauchen die Phonothekare 48 Jahre, sie haben das ausrechnen lassen. Der Chefkämpfer seufzt, wenn er daran denkt. Will Prentice liebt die Welt der Geräusche, das war schon immer so.

Woher rührt Ihre Faszination für das Akustische? Ich stamme aus einer Gegend, in der Dudelsäcke populär sind. Ein wirklich lautes Instrument! Das war meine erste Begegnung mit Musik. Aufgewachsen bin ich auf einem Bauernhof. Meine Eltern haben mir beigebracht, unsere ganzen landwirtschaftlichen Maschinen am Geräusch zu erkennen: Nur wenn man Motoren genau identifizieren kann, merkt man gleich, wenn mal was kaputt ist und anders klingt. Später habe ich in Bands Gitarre gespielt und einen Abschluss in klassischer Musik gemacht.

Sie haben als freiwillige Hilfskraft angefangen, 15 Jahre später sind Sie technischer Leiter des Archivs. Hand aufs Herz: Gibt es eine Aufnahme, der Sie bis heute vergeblich nachjagen? Ja, die gibt es. George Orwell! Wir haben nichts Hörbares von unserem berühmten „1984“-Autor – dabei hat er Anfang der 40er Jahre sogar fürs britische Radio gearbeitet. Das ist mein Traum: plötzlich einen Anruf kriegen, und jemand sagt, er habe Orwell – im Dienst der BBC – gefunden.

Auf welche Töne im Archiv sind Sie besonders stolz? Wir haben unsere Favoriten. Die Aufnahme von Florence Nightingale zum Beispiel. Als Krankenschwester wurde sie Zeugin der Verheerungen mehrerer Kriege. Sie nutzte Ende des 19. Jahrhunderts die neue Wachszylinder-Technik, die Thomas Alva Edison gerade für seinen Phonographen entwickelt hatte, und forderte in Tonaufnahmen zur Unterstützung von Obdachlosen und Veteranen auf. Ein anderes Beispiel ist der Ruf des letzten Kauai-Krausschwanzes, eines hawaiianischen Vogels, dessen Lebensraum immer mehr schrumpfte. 1981 gab es nur noch ein überlebendes Paar, dann starb das Weibchen, vermutlich in einem Orkan oder Erdbeben. Ornithologen haben das Männchen danach noch aufgenommen, wie es nach seiner Frau rief. Es kam keine Antwort. Das ist ergreifend. Und so etwas muss man einfach hören.