Cerrone

Pionier à gogo

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Im Mittelpunkt von „Future of Audio“ – steht der Mensch. Einzelne Menschen mit Einfallsreichtum und Kreativität, die es wagen, ihre Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Entscheider mit dem Willen, ihre Klientel durch neue Audiowelten zu erreichen. Klangenthusiasten, die uns mit innovativen Projekten Hörerlebnisse verschaffen, die unser Inneres bewegen. Mit „Menschen“ sprechen wir alle Musiker, Künstler, Toningenieure, Produzenten, Entscheidungsträger, Sound-Designer an, die unsere Welt zu einem sinnlichen  Klanguniversum werden lassen. 

In den 70er Jahren wurde Cerrone in New York ein Star, bekam davon aber nichts mit. Heute wird der Franzose als ein Erfinder des Disco-Sounds gefeiert – und plant jetzt ein Comeback.

  • Autor: Knut T. Jordaan
  • Fotos: Press.because.tv/cerrone
  • Video: Cerrone
„Eigentlich ist meine Karriere ein Zufall.

Eine versehentlich nach New York geschickte Platte, damit fing alles an. Auf dem Cover sitzt ein dünner Typ mit Schnörres und Pilzfrisur im schwarzen Bademantel, neben ihm eine Frau, die nichts anhat außer Halstuch und Stirnband. Diese Platte legt man nicht einfach so aus der Hand. Wer ist der komische Typ? Und was ist das wohl für Musik?

Der Typ heißt Cerrone, die Platte „Love in C Minor“, und der Titelsong passt in kein Schema. 16 Minuten lang, im Vordergrund ein steter Beat von Cerrone am Schlagzeug, melodiöse Orchesterklänge, ein souliger Refrain – und dazu orgastisch stöhnende Frauen. Eine Provokation vom Coverfoto bis zum letzten Ton. 1976 war dies der Beginn einer aberwitzigen Erfolgsgeschichte mit mehr als 30 Millionen verkauften Platten. Und nebenbei der Schöpfung eines neuen Sounds – French Disco.

Heute, 39 Jahre später, ist Jean-Marc Cerrone etwas rundlicher als damals auf dem Cover, und seine Haare sind silbergrau. Der 1952 bei Paris geborene Drummer und Musikproduzent erlebt derzeit eine Renaissance, seine Beats werden von DJs in Paris, London und Miami gesampelt und er als Pionier gefeiert, ähnlich wie Giorgio Moroder. Er sagt dazu: „Eigentlich ist meine Karriere ein Zufall.“

„Love in C Minor“ sollte seine erste und letzte LP werden. „Ich wollte einfach einmal genau die Musik machen, die mir gefällt. Dass die Erfolg haben würde, habe ich nicht gedacht.“

Cerrones Sound ist ungewöhnlich; die laute Bass Drum im Vordergrund, die heute fast jeden tanzbaren Titel prägt, war damals neu. Kein Label will das Stück veröffentlichen. Die Plattenbosse zweifeln an seinem Verstand. „Sie fragten mich nur: Bist du verrückt? Was zur Hölle soll das sein?“ Also gründet er sein eigenes Label „Malligator“, fliegt von Paris nach London, presst 5000 Vinylscheiben und lässt sich mit Bademantel und unbekleideter Begleitung fürs Cover fotografieren. Und dann greift der Zufall ein.

Der Plattenladen an den Champs Élysées, der Cerrones Erstlingswerk verkauft, schickt ein Paket nach New York. Der Inhalt: Schallplatten von Barry White, die sie nicht loswerden und die zurück an den Musikvertrieb sollen. Aus Versehen mit in der Schachtel: „Love in C Minor“. Wer ist dieser komische Vogel neben der Nackten? Und was ist das wohl für Musik? Der US-Musikhändler legt die Platte auf. „Er sagte ‚Wow!’ und gab sie einem New Yorker DJ. Auch der war begeistert und fing an, meine Songs in Clubs aufzulegen. Das hat mein Leben verändert“, sagt Cerrone und lacht.

Sein Sound elektrisiert New York

Denn Disco macht Cerrone zum Star in den USA. Sein Sound elektrisiert in verschwitzten Kellerclubs Schlaghosen und Nylonhemden. Cerrone bekommt davon nichts mit. Auch nicht, dass die amerikanischen Plattenbosse nach ihm suchen. Sie fragen in London nach, denn „auf der Platte stand ‚Produced in the UK’“, erinnert sich der damals unverhoffte Disco-König, der in Paris lebt. „In London sagten die Leute nur: Cerrone? Keine Ahnung, wer das ist!“

Also hilft noch einmal der Zufall.

„Ein Freund von mir hatte in einer New Yorker Disco meinen Song gehört und sagte: ‚Du bist da drüben ein riesiger Erfolg!’ Ich konnte es erst nicht glauben. Aber dann habe ich mich ins Flugzeug nach New York gesetzt.“ Dort läuft Cerrone zur ersten großen Plattenfirma, die ihm einfällt, und erklärt: „’Love in C Minor’ ist von mir.“ Der Disco-Pionier mit Schnörres und Pilzkopf unterschreibt direkt einen Vertrag über 5 LPs.

„Was soll diese Musik?“

Ende der 70er tourt Cerrone quer durch die USA, nimmt ein zweites und ein drittes Album auf –– und bleibt ein Avantgardist. Giorgio Moroders Synthesizer-Sound erfasst die Tanzflächen, und auch Cerrone bekommt eine dieser Elektro-Orgeln in die Hand. „Ein völlig neuer Sound war möglich, das hat mich fasziniert. Also habe ich ‚Supernature’ komponiert.“ Seinen größten Hit, der seiner Zeit wieder voraus war. „Als ich damit zu meinem Label kam, sagte der Chef zu mir: Was soll diese Musik? Wieso klingst du nicht wie auf deinen ersten Alben?’ Ich erwiderte: ‚Ich mache die Musik, die mir gefällt. Das ist mein Job. Ob die erfolgreich ist, ist mir egal. Dafür bist du da, das ist dein Job.“

Doch die Plattenfirma lehnt ‚Supernature’ ab. Wieder glaubt Cerrone an sich und seine Musik, steigt aus dem Vertrag aus, produziert über sein eigenes Label. Er verkauft schlanke 8 Millionen Platten. „Mein alter Boss rief mich an und sagte: ‚Es ist unglaublich. Du hattest Recht.’“

„Ich ein DJ? Macht ihr Witze?“

So wie fast immer, mit seinem Gefühl für Sound und Zeitgeist. Cerrone sagt dazu bescheiden: „Ich wundere mich selbst seit vierzig Jahren. Auch wenn ich immer genau die Musik gemacht habe, die ich gut fand, war jeder Erfolg für mich eine Überraschung.“

In den 80ern produzierte er große Konzerte und Events in den USA, Japan, Frankreich. Als Studios ihn um neue Alben baten, lehnte er ab. Das Interesse an Disco ließ nach in den 90ern, zur Jahrtausendwende sampelten immer mehr DJs seine Nummern, und der Disco-Sound kehrte in Neonfarben und mit immer stärkeren Elektro-Beats in die Clubs zurück. Die Plattenbosse bedrängten ihn, und diesmal war er es, der zweifelte: „Wer wird das denn kaufen?“

Bei seinem ersten Comeback tun es mehr als eine Million Leute. Ein DJ und Produzent aus der neuen Generation des französischen Disco-Sounds („French touch“), Bob Sinclar, bringt 2001 mit Cerrone eine neue Edition von dessen alten Songs heraus und hievt den Altmeister damit zurück auf die Bühne. „Jetzt riefen die Label-Bosse an und sagten: Siehst du, diesmal hatten wir Recht! In den Clubs läuft wieder dein Sound, du musst als DJ auftreten!“ Da lächelt er bloß. „Ich ein DJ? Macht ihr Witze? Ich bin Musiker!“ Er zögert. Er ziert sich. Er befragt ein paar Freunde – den französischen House-DJ David Guetta, Bob Sinclar, ein paar andere. Sie alle raten ihm zu.

Cerrone, der Zweifler, er gibt nach. Nun stehen diesen Sommer fast 20 Auftritte an – in Paris und London, aber auch auf Festivals wie Glastonbury. Einer der Begründer des Disco-Sounds, 40 Jahre später wiedergeboren als DJ.

„Fragen Sie mich nicht, ob ich überrascht bin. Ich kann es kaum glauben. Die Massen vor sich zu sehen, die deine Musik genießen: Es ist ein Geschenk.“

Aber das ist noch nicht alles. „Ich darf nicht viel verraten, aber ich arbeite an einem neuen Album. Es ist fast fertig und erscheint zur Jahreswende. Gerade habe ich einen Song mit dem amerikanischen Rapper Aloe Blacc aufgenommen.“

Wird der Mann mit Anfang sechzig nochmal eine neue Ära einläuten? Wer weiß. Cerrone macht einfach wieder die Musik, die ihm gefällt. Das ist sein Job. Und die Leute in den Discos werden einfach wieder danach tanzen.